Ok. Traurig sein ist eines der vielseitigsten Gefühle, das ich kenne. Es gibt viele unterschiedliche Geschmacksrichtungen von traurig sein, die jedoch alle ihren eigenen Platz haben. Wie eine Schneekugelsammlung.
Es gibt ein brennendes, loderndes traurig sein, das ganz nah am Zorn oder am Hass dran ist. Es ist ein verschlingendes Feuer und ich hab das Bedürfnis wild um mich zu schlagen. Das oder denjenigen, der das traurig sein verursacht hat, so zu verletzen, dass es demjenigen leid tut. Als würde meine Trauer weniger oder erträglicher, wenn ich dem Verursacher auch weh tu. Ich will alle Brücken und Wege abbrechen, einen klaren, kalten Schnitt machen. Kalt und hart sein, wie ein glattgepresster Kiesel, während es in mir heiß und verzehrend lodert. Nur wenige Menschen oder Situationen sind in der Lage mich an diesen Punkt zu bringen. Diese Traurigkeit hat immer damit zu tun, dass mir etwas viel bedeutet und dass ich tief verletzt wurde. Meistens durch Unachtsamkeit oder dadurch, dass etwas nicht so ist, wie ich es erwarte, mir wünsche oder vorstelle. Eine enttäuschte Erwartung – eines der mächtigsten Gefühle überhaupt.
Es gibt ein bleiernes traurig sein. Das fühlt sich an wie die Schürzen, die man beim Röntgen umgelegt bekommt: Ich bin ganz in die Trauer eingewickelt, jede Bewegung ist sinn- und nutzlos, selbst sprechen fällt schwer. Ich heuchele Interesse für die Welt um mich herum, während selbst ein kleines, höfliches Lächeln an meinen Mundwinkeln zerschellt. Die Bleischürze drückt mich nieder, meine Energie verpufft im Kampf mit ihr oder der Resignation.
Es gibt ein schmerzhaftes traurig sein. Als hätte man sich gestossen und eine wunde Stelle und passt nun immer auf, dass man an derselben Stelle sich nicht wieder verletzt. Jeder Druck, jede Belastung an der Stelle ist schwer zu ertragen, weil sie eben so ungeschützt ist. Dieses ist ein traurig sein, das man aushalten muss, bis die schützende Hautschicht wieder nachgewachsen ist.
Es gibt ein schönes, mildes traurig sein. Dieses traurig sein ist nah an der Melancholie. Es ist so, wie es nunmal manchmal im Leben sein muss: Ein Herbsttag, an dem die Blätter leise zu Boden wanken, ein Kind springt in einen Laubhaufen, so wie wir es selbst einmal gemacht haben, ein Vogel hüpft gedankenverloren im Laub herum und ist schön anzusehen mit seinem roten Köpfchen, das er von der einen zur anderen Seite neigt, während er auf den Ruf des Windes lauscht. Der Vogel ist so nah, dass Du ihn berühren könntest und doch weißt Du, dass er mit einem Satz aufschreckt, wenn Du Dich im näherst und sich mit schnellem Flügelschlag außer Reichweite bringt. Das alles ist tröstlich und traurig zugleich. Es ist ein wenig wie eine Verabschiedung von etwas, ein leises Vergehen. Es ist die Akzeptanz des Unveränderlichen, Unausweichlichen. Und das ist ok, tröstlich und friedlich zugleich. Ich bin bereits an dem Punkt, an dem ich gehen und loslassen kann, ein sachtes Lächeln lächeln kann und das traurig sein ist nur noch eine letzte Umarmung. Eine letzte Versicherung, dass es was bedeutet hat. Das was schön war, nun vorbei ist. Ich höre mir ein trauriges Lied an, starre sinnierend aus dem Fenster, sehne mich danach ein bißchen zu weinen und komme mir sehr tiefsinnig und welterfahren vor, wie ich da so stehe mit meinem melancholischen Lächeln und sage: Wäre schön gewesen… aber so ist es auch gut. Es ist das letzte Aufbäumen etwas bereits Vergangenem.
Dann gibt es das hoffnungslose, verzweifelte traurig sein, für das es keine Heilung, keine Linderung gibt. Es ist das traurig sein über das, was Menschen schlimmes machen: Mit der Welt, mit Tieren, miteinander, mit Schwächeren. Unsere Ohnmacht und Hilflosigkeit schmerzt uns und unser Herz bäumt sich vergebens auf, stemmt sich vergebens wie ein wilder Mustang gegen den Fangstrick des Unausweichlichen. Das Wissen, dass das alles schon genau so war vor hunderten, tausenden von Jahren, dass sich nichts verbessert oder ändert ist erdrückend und kaum erträglich. Es ist das hoffnungslose traurig sein, darüber dass wir gezwungen werden zu akzeptieren, dass der Stärkere den Schwächeren auffrisst.
Es gibt auch ein rebellisches traurig sein. Das mich in trotzige, entschlossene Aktion treten lässt. Ein Schmerz wird zu Trauer und Trauer zu Aktion. Dieses traurig sein ist das funktionalste von allen, es ist fast immer eine Weiterentwicklung eines der früheren Stadien des traurig sein bis hin zu dem Punkt, am dem ich das traurig sein nutzen kann. Die Verabschiedung hat bereits stattgefunden, das traurig sein ist aber immer noch da, denn jetzt geht es daran was zu ändern. Und wenn ich dann was mache, ist das traurig sein in der Regel in dem Moment auch verschwunden.
Und dann ist da noch das mitfühlende traurig sein. Das uns nur insofern persönlich betrifft, dass wir Zeuge von etwas werden, was uns bewegt oder erschüttert. Von Missständen oder Ungerechtigkeiten. Dieses traurig sein bringt uns vielleicht sogar dazu was zu unternehmen gegen/für eine Verbesserung, was natürlich für eine mächtige Kraft und Energie spricht. Es ist jedoch ein traurig sein sozusagen in der dritten Person.
Ich denke, dass viele dieser verschiedenen traurig seins miteinander verknüpft sind. Sozusagen unterschiedliche Aggregatzustände ein und desselben Ursprungs sind. Zum Beispiel fängt was vielleicht lodernd an, wandelt sich in schmerzvoll und wird dann mild. Ich find es bemerkenswert, dass ein Gefühl, das nur einen Namen hat und im allgemeinen auch nicht näher definiert wird, nämlich traurig sein, sich bei näherer Betrachtung so unterschiedlich anfühlt.
Es gibt sicher noch mehr traurig seins, die ich jetzt vergessen hab. Vielleicht habt Ihr ja auch noch ganz andere traurig seins, die ich noch gar nicht kenne? Das wäre interessant!
Alles in allem, glaube ich aber, dass das traurig sein unser Freund ist und nicht unser Feind. Ich weiss, dass es mir nix böses will und dass es immer da ist, um mich von einem Punkt zum nächsten zu geleiten, auch wenn ich das vielleicht in dem Moment nicht sehen kann. Traurig sein ist sowas wie ein Taxi, das uns weiter befördert auf dem Weg, auf dem wir gerade sind. Traurig sein heißt immer, etwas ist in Bewegung und das ist eine gute Sache.
Die Frage, die sich mir deshalb stellt, ist: Dass wir traurig sein als Last empfinden (sollen), liegt das an unserer heutigen Zeit? Einer Zeit, in der wir immer funktionieren müssen, in der alles unterteilt wird in normal und nicht normal und in der „glücklich“ sein automatisch als Grundstellung, als default Stellung, angesehen wird, was ja bei näherer Betrachtung totaler Quatsch ist! Denn glücklich zu sein ist einer der seltensten Gefühlszustände, die wir erreichen können. Genauso wie zufrieden. Dennoch wird uns in Werbung und im Fernsehen permanent vorgegaukelt, dass wer normal ist, glücklich und zufrieden ist. Oder andersrum: Wer glücklich und zufrieden ist, ist normal. Dazu sag ich: Bullshit! Wer hüpft denn schon dauerglücklich durch sein Leben, wenn nicht mit Psychopharmaka zugefüttert wird?
Vielleicht sollten wir unserem traurig sein vertrauen, anstatt es als unerwünschten, lästigen Besucher zu betrachten und es sofort zu bekämpfen? Die allermeisten Gefühle haben ja eine wichtige Funktion und vielleicht sollten wir (wieder) lernen uns da einfach zu vertrauen und unsere Gefühle auszuhalten?