Bittersüße Ungemach – Wandernde Gedanken

Der Gedanke kullert los ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Augen nach vorn gerichtet, hatte er das hinter sich schon fast vergessen. Der Ursprung runzelt die Stirn und wackelt bedenklich. Bei diesem war er sich seiner begrenzten Macht wieder bewußt geworden. Er fühlt sich alt. So vieles, was er hätte tun wollen, so wenig, was er tun konnte. Wenn die Gedanken noch unbefleckt, unabgenutzt sind, streben sie zur Erkenntnis, streben danach Tatsachen oder Entscheidungen zu werden. Worte von gestern sind dann nur schwere, unnütze Anker, die im Weg sind. Werden schon kaum mehr wahrgenommen. Zu verlockend ist die Aussicht auf Ruhm, auf Ewigkeit. Darauf handfest zu sein, eine Rolle zu spielen. Wer will schon immer Recht behalten. Mühsam dreht der Ursprung sich herum. Unter den tausenden waren immer einige, die ihm nahe kommen, die er schützen will. Doch die Natur des Ursprungs ist es zu erschaffen. Nicht zu formen oder zu begleiten. Ein Moment. Mit Glück zwei.

Der Gedanke hatte den Ursprung schon längst vergessen. Spürte nicht die Sorge, die ihn unsichtbar mit ihm verband, das eherne Band, ungewollt und unerwünscht. Ein kleiner Widerstand vielleicht? Nein, nicht einmal das. Aber das sollte sich bald ändern. So wie sich alles ändert. Augen weit aufgerissen, kullerte er die große Straße entlang. Kullerte rechts und links herum, rief hallo zum Gedächtnis (wer bist Du nochmal?), kullert kurz in die kleine Nebenstraße bei der Neugier, die vor ihrer Haustür auf einer Bank saß und mit emsig flitzenden Augen Informationen sammelte (wo gehst Du denn hin und was willst Du da und warum und wann und wieso?), bereut es aber sofort und kullerte gleich rückwärts wieder auf die große Hauptstraße hinaus. Um zu Atem zu kommen, macht er kurz Halt bei der Langeweile. Da nichts passieren wollte, noch nicht mal was interessantes und es unter dem Kuhblick der Langeweile schon etwas unbehaglich wurde, kullerte er auf leise wieder auf die Straße.

Der Gedanke verstieg sich in Träumen zu seiner Bestimmung, überlegte, was er denn wohl sein würde: Eine Idee, ein Zweifel, eine Tatsache, eine Frage? Da wurde er aufgeregt und kullerte schneller. Tatsächlich kullerte er so schnell, dass er sich verhaspelte und hinterrücks ungewollt in sein Unglück und durch das Fenster des Argwohns kullerte. Es krachte, splitterte und klirrte. Ausgerechnet beim Argwohn! Ursprung hatte ihn gewarnt: „Geh da nicht hin, lass Dich da nicht in ein Gespräch verwickeln, egal, was Du sagst, der glaubt Dir eh nix.“ Der Gedanke hatte schon sein Kärtchen gezückt, um sich auszuweisen, so wie er es gelernt hatte. Aber Argwohn ignorierte es mit einer geringschätzigen Geste. Stattdessen umkreiste er ihn, betrachtete ihn von oben bis unten und dann ging es los: Woher er käme, ob er das absichtlich gemacht hätte und mit welcher Absicht denn genau. Er versuchte sich zu erklären, versuchte zu beschreiben, wie er losgekullert war, das mit der Langeweile und wie er sich verhaspelt hatte, aber Argwohn hörte ihn gar nicht.

Er hielt sein Kärtchen in einer schwitzigen Hand, fühlte, wie ihm dabei unbehaglich wurde und wechselte die Hand. Argwohn, der pfeilschnellen Blickes diese unnütze Bewegung verfolgte, erkannte sie sofort als Camouflage. Aber – und der Ursprung hatte versucht dies dem Gedanken zu lehren – Argwohn ist zwar ein Meister im Erkennen, aber er kann nicht deuten, was er sieht. Er kann es einfach nicht. Was den Argwohn natürlich noch zu mehr Argwohn antreibt, er wittert die Verstecke, er weiß, da ist was und ist doch der unendlich gefoppte, der niemals das Gefundene findet. Eine wahnwitzige Idee, dieser Argwohn. Der Gedanke schluckte und wie ein Blitz sah er plötzlich das gefurchte Gesicht des Ursprungs.

Und da spürte er es. Ohne es zu wissen. Das Band.

Mit einmal war ihm etwas leichter. Mit einmal schwebte er nicht mehr losgelöst am schwarzen Rand. Und während Argwohn fieberhaft seine Taschen durchwühlte, versuchte die Dinge darin zu greifen, die ihm immer wieder aus den gichtigen Händen glitten, legte er seine Karte ab. Der Gedanke setzte wieder an mit einer Erklärung: Wie er sich verhaspelt hat und dabei aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Aber es war, als würde er im Leerlauf sprechen. Und als hätten seine Worte für Argwohn einen doppelten Boden, eine versteckte zweite Bedeutung, lauschte Argwohn dem Sinn der Worte hinterher mit zur Seite geneigtem Kopf und versuchte ihn zu ergründen. Zum Glück rief in diesem genauen Moment der gesunde Menschenverstand, der eine Standleitung zu Argwohn hatte, an und der Gedanke nutze dies, um schnell aus der Tür zu entwischen. Seine Karte hatte er auf der Vitrine liegen lassen. Wegen des kaputten Fensters. Er war ein rechtschaffener Gedanke, auch wenn er das noch nicht wusste.

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Inzwischen war der Gedanke müde und hungrig. Es ist schwer eine Reise zu tun, wenn man zwar weiß, es gibt ein mögliches Ziel, aber nicht wo und wann und wenn im Unterkopf immer die Möglichkeit mitschwingt, dass er verworfen werden kann. Der Ursprung hatte versucht ihn darauf vorzubereiten, aber er hatte sich gedacht: „Vielleicht andere, aber nicht ich! Ich bin bedeutend, ich hab Klasse, bin ein Abenteurer und keine Sackgasse!“ Nun kam er sich dumm vor. Großmäulig. Er war erst ein paar Stunden unterwegs, wollte aber nun nicht mal mehr kullern. Mühsam rollte und eierte er sich vorwärts. Er sehnte sich nach einem Platz, wo er kurz stillstehn konnte. Ein kleines Eckchen.

Während er leiernd vorwärts rollte, schaute er links und rechts in die Gedankensackgassen, die längst verlassen, überwuchert von neuen Gedankensträngen, Argumentationsketten und Teufelskreisen brach vor sich hin lagen. Eine Stadt für sich. Ob er vielleicht in einer davon unterkommen könnte? Er hatte ein bisschen Angst. Angst, vor dem, was er sehen könnte. Angst, dass er, wenn er einmal in eine abbiegen würde, vergessen würde jemals wieder loszukullern. Schließlich waren die Sackgassen auch mal Gedanken. Bevor sie überholt waren und sich nicht mehr wandeln konnten.

Dann schlug ein „Hey“ gegen seinen Kopf. Vorsichtig schaute er in die Hey-Richtung. Eine Welle von Erleichterung überwogte ihn, er drehte um und rollte zum Hey, leise klirrend, gegen es stoßend, bis er vollständig zum Stillstand kam. „Ich hab schon eine ganze Weile nach Dir Ausschau gehalten. Dachte schon, Du bist in einer Sackgasse hängengeblieben. Ursprung hat Dich angekündigt. Hat gesagt, das könnte passieren, weil Du klüger bist, als gut für Dich ist.“ Der Gedanke wusste nichts darauf zu sagen. Fühlte einen Hundeblick in sich aufsteigen und hasste sich dafür. Aber Zentrale sprach schon weiter, während sie so tat, als hätte sie entweder nichts gesehen oder wäre großzügig, was beides eine Lüge war. „Du kannst bei mir übernachten. Ich geb Dir eine Ecke und morgen früh kullerst Du wieder los.“ Die Zentrale betrachtete den Gedanken genauer: Den gläsernen Blick, die Schmutzspuren und die kleine, abgesprungene Stelle, die er beim Fenstersturz abbekommen hatte. Ihr strenger Blick wurde weicher, obwohl er eine gewisse, unrunde Distanz beibehielt. Sie sah, was die Zentrale bereits gesehen hatte. Zusammen hatten sie Legionen von Gedanken entstehen und sterben sehen und sie erkannten Substanz.

Dem Gedanken blieb dies alles verborgen, er hatte schon lange müde genickt und war dann durch die schiefe Tür in einen hohen, hölzernen Raum gekullert. Da sah er große, majestätische Gedanken an langen Tafeln Hof halten. Sah schäbige, kleine, abgewetzte, glänzende und gläserne Gedanken. In Gruppen, einzeln oder alleine. Die Luft schwirrte und vibrierte nur so von vielfältigem Denken, von Fragen, Zweifeln, Urteilen, Bedenken und Bestätigung. Der junge Gedanke war nun nicht mehr der bestimmte, selbstsichere Denkerich vom Morgen. Ein paar Stunden Gekuller hatten genügt ihn abzunutzen.

Die Zentrale hoffte, dass ein paar Stunden Schlaf und ein Gespräch am Morgen genügen würden, damit er sich wieder entfalten würde. Anders herum wäre es schade. Als hätte der Gedanke das gehört, schaute er genau in dem Moment zur Zentrale hin. Diese ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, hielt seinen Blick gefangen bis klar war: wenn sie wegschaute, dann weil sie genug geschaut hatte. Sie hatte diese Tiefe. Dann nickte sie dem Gedanken zu, drehte sich gezirkelt langsam um ihre Achse und ging in Richtung Tür. „Es ist, als würde eine Last auf ihren Schultern liegen. Bittersüße Ungemach.“ Mit diesen Worten fielen dem Gedanken die Augen zu und er schlief bereits in der nächsten Sekunde tief und fest.

Ich schrecke auf. In meinem Kopf hatte ich ganz deutlich den Satz gehört: „Es ist, als würde eine Last auf ihren Schultern liegen. Bittersüße Ungemach“. Ich frage mich, was das bedeutet. Und beginne damit, mir darüber einen Gedanken zu machen.

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