Das Blatt zittert ein letztes Mal, dann löst sich die bereits seit Tagen immer dünner werdende Verbindung zum Baum und der Fall beginnt.
Ein Riese mit einem roten Schal geht unter dem Baum einher. Durch Zufall oder Vorsehung sieht er just in diesem Moment hinauf und sein Blick und der letzte sichere Moment im Leben des Blatts treffen sich.
Wie zwei Laser überschneiden sie sich, als hätte die Berührung des Blicks die letzte barmherzige Faser der Verbindung durchtrennt. Der Riese wendet seinen Blick ab und geht weiter, wie Riesen das tun.
Das Blatt taumelt in die Tiefe. Es hat schon oft diesen Traum gehabt. Dass es stürzt. Das Gefühl, keinen Halt mehr zu haben, losgelöst im freien Fall zu sein, nicht mehr zum Baum zu gehören. Aber dann war es immer aufgewacht, hatte die tröstliche Verbindung zum Baum gespürt und sich wieder sicher gefühlt. Jetzt würde es nicht aufwachen. Vielleicht nie wieder. Für einen Moment fühlt es wie die Aussichtslosigkeit eine fatale Stärke in ihm erweckt. Eine Ruhe, fast unnatürlich, kommt über es. Als wäre es sein Schicksal hinabzufallen. Als hätte es das in Wahrheit immer gewusst. Irgendwo tief drin. Aber dann dreht der Wind es herum und es sieht den Boden und Panik schwappt ihm bis zum Blattrand. Wie würde es sein, würde es auseinanderbrechen beim Aufprall? Kann es sich irgendwo festhalten? Gibt es irgendwo Halt? Rettung? Aber es hat die letzten Äste bereits hinter sich gelassen. Nichts wird es nun noch aufhalten können.
Dann ist der Boden da. Das Blatt fühlt sich vorsichtig bis zum Rand. Alles scheint heil zu sein. Es spürt einen kleinen Riss an einer Seite, Saft fließt hinaus, aber es ist minimal. Erleichert. Das Blatt versucht sich zu orientieren. Um es herum sind viele gefallene Schwestern und Brüder, aber sie erscheinen irgendwie komisch. Blass, trocken. Es kann nicht genau erkennen, was los ist. Ihm fehlen Millionen Sinne. Bisher war es immer ein Teil des Baumes. Es hat die Nachrichten und Wahrheiten empfangen, die der Baum ihm zugetragen hat: „Ein kleiner Käfer, 30 cm weiter links.“ „Heute ist der 6.Tag ohne Regen.“ Und es hat, wie es die Aufgabe aller Blätter ist, dem Baum zugetragen, wenn es selbst etwas wahrgenommen hat. Den Wind, der es hin und her weht, der Regentropfen, der schwer auf ihm gelandet ist. Bisher war es immer ein Teil des Baumes. Jetzt ist es allein.
Aber gut, immerhin konnte es noch denken und fühlen. Also existierte es ja noch. Oder? Und ganz alleine war es auch nicht, da lagen ja lauter andere Blätter um es herum. Also war noch nix verloren. Oder? Vielleicht konnte es Teil von etwas anderem wer
Der Mann schaut auf den Boden, er hat ein merkwürdiges kleines Geräusch gehört. Auf irgendwas ist er draufgetreten. Aber als er seinen Schuh wegbewegt, um zu sehen, auf was er denn getreten ist, ist da nichts. Nur ein Blatt, in der Mitte entzwei gerissen. Er zuckt mit den Achseln. Er schiebt die Enden seines roten Schals, die sich bei der Bewegung befreit haben, wieder in den Mantel zurück und geht weiter. Da hat er sich wohl getäuscht.