Mit meinen missgünstigen Augen

Ok. Ich hab heute morgen einen -leckeren- Kaffee auf dem Balkon getrunken, dann ein Buch von einer Frau gelesen, die als einzige einen Flugzeugabsturz überlebt hat, ein digitales Weingut in einem Spiel geleitet, Bewegungs- und Dehnübungen gemacht, an einem Bild weitergemalt, einen – sehr leckeren – Salat gemacht und gegessen und dann Wäsche gewaschen und aufgehängt.

Würde ich das über jemand anderem hören, würde ich denken, dass derjenige einen produktiven, erwachsenen -und leckeren – Tag hatte. Warum kann ich das nicht über mich denken? Warum denke ich, dass ich den ganzen Tag nichts (!) gemacht hab?

Ich bin das so leid.

Ich weiß, dass die ersten Lebensjahre das gesamte weitere Leben bestimmen – aber irgendwann ist doch auch mal gut. Irgendwann müssen diese alten Ideen meiner Identität doch mal überschrieben sein, wenn ich aktiv daran arbeite! Wer hält länger durch? Wer ist sturer? Ich oder ich?

In bestimmten Bereichen seh ich mich immer durch meine kritischen und missgünstigen Augen, während ich andere mit meinen neutralen oder wohlmeinenden Augen sehen kann. Ja, wenn ich es bewußt denke, kann ich die guten Augen auch für mich nutzen, aber das braucht extra Einsatz. Ich will das automatisch, unbewußt können!

Sicher, es ist jetzt es schon besser, seit ich das kann, weil ich jetzt zumindest immer nur kurz denke, dass ich nicht genug bin, im Vergleich zu früher, wo ich das dauernd gedacht hab. Aber ich will es gar nicht mehr denken!

Was, wenn das immer so bleibt? Wenn es nie perfekt wird?

Vielleicht ist das aus einem Grund so? Vielleicht ist es falsch zu erwarten, dass ich eine unbewußte Identität habe? Vielleicht ist unsere Art und Weise uns emotional gehen zu lassen und zu nehmen, was auch immer emotional aus uns rauskommt das was nicht normal ist? Vielleicht soll ich eine Grund-Idee von mir haben, die notgedrungen von außen kommen muss, da ich in dem Alter in dem sie entsteht noch keine eigene innere Idee entwickeln konnte. Um dann im Lauf des Lebens eine eigene Idee zu entwickeln, die die alte nicht überschreibt, sondern ergänzt. Wie Wissen, das durch Erfahrung erweitert wird.

Das ist interessant. Eine interessante Idee und Frage.

Ich hab diesen Text angefangen mit so viel Ungeduld und Spannung in mir. Ich hab mich schlecht gefühlt. War genervt und missmutig. Aber ab dem Absatz beginnend mit „vielleicht“ hat sich das geändert. Ich hab mich entspannt – im körperlichsten Sinne des Wortes, weil ich davor total verkrampft war – und jetzt ist es ein bisschen sonnig in mir.

Und gerade, gerade eben, genau während ich das hier schreibe, hat es geschnackelt! Mit der Idee, dass ich eine „fehlerhafte“ Programmierung überschreiben muss, um dann einwandfrei zu funktionieren, hab ich genau das Gleiche gemacht wie meinen Tag mit meinen missgünstigen Augen anzuschauen! Genau das Gleiche! Ich hab mich unter Druck setzen lassen von der perversen Idee in unserer Gesellschaft, dass man „glücklich“ sein muss und dass Glück und Funktionalität das Ziel eines Lebens sein muss. Diese Idee kommt daher als Freiheit, als Respekt und Anerkennung des Individuums – ist aber in Wahrheit nur ein verkleideter Käfig. „Ja klar kannst Du sein wie Du bist – solange Du versuchst einem Ideal hinterher zu rennen und funktionierst.“ Aber einem Ideal hinterher zu rennen ist das genaue Gegenteil von „Sein“. Und erst recht von sich selber zu sein.

Anstatt den Prozess anzunehmen. Und es cool zu finden dass ich was geändert hab. Stattdessen hab ich verinnerlicht, dass ich funktionieren muss und dass das Happy End irgendwann kommen muss:

Irgendwann ist alles gut und ich bin repariert.

Mann, was ein Scheiß! Ich muss nicht repariert werden, selbst wenn das möglich wäre.

Woah. Jetzt fühl ich mich gut. Und ruhig. Ein großes Gewicht, von dem ich gar nicht richtig wusste, das ich es mit mir rumschleppe, ist von mir abgefallen.

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