Ok. Heute bin ich etwas nachdenklich und folge dem verschlungenen Pfad zum Grunde des Brunnens in mir drin immer weiter hinab. Der Brunnen beherbergt viele: Mein Herz, meine Seele, meine Kreativität. Aber um dorthin zu gelangen, muss man erst in den Brunnenschacht hinabsteigen. Der Pfad dorthin hat ein paar wunderliche Eigenheiten und Tücken. Manchmal ist er so gangbar, dass ich kaum merke, dass ich schon durch ihn durch bin und manchmal schmeißt er sich mir in den Weg und es liegt an mir ihn wieder beiseite zu drängen und räumen oder umzukehren. Passiv und erbarmungslos betrachtet er mich dabei, wie ich schufte, um ihn wieder begehbar zu machen. Dann steht er da, die Arme verschränkt, lässig an die Wand gelehnt, halb spöttisches Grinsen im Gesicht und alle Ruhe und Zeit der Welt. Bewegungslos. Während ich schwitzend und fluchend hin und her flitze, Baumstämme weg rolle, Löcher stopfe, Geländer ausbessere und Brücken befestige.
Das blöde ist, dass ich im vorhinein nie weiss, was mich erwartet. Würde ich das wissen, könnte ich mich vorab schon innerlich stählen und die richtige Ausrüstung mitnehmen. Aber der Weg ist extra so konstruiert, dass ein großes, gußeisernes Tor sich schließt, wenn man versucht es sich leicht zu machen. Bescheuert rachsüchtig. Aber irgendwo in mir drin ist das Wissen, dass das doch einen Sinn hat. So als hätte ich es mal irgendwo gelesen und gleich wieder vergessen, so dass nur noch eine leise Ahnung davon bleibt, eine verschwommene Idee. Also weiss ich auch heute nicht genau, was mich erwartet.
Zuerst ist der Boden noch eben, ich komme gut voran. Alles, was ich höre ist der Klang meiner Schritte, die auf dem staubigen Asphalt ein kratzendes, trockenes Geräusch hinterlassen. Doch nach einigen Biegungen und Wendungen, wird es enger, holpriger, ein kleines Stückchen Fels rollt vor mir den Weg hinab, in Bewegung gesetzt von meinem linken Fuß, der es achtsam unachtsam übersehen und dass arme Ding mit Füßen getreten hat. Für einen Moment stell ich mir vor wie es ist das Steinchen zu sein. Nichts anderes zu können als zu liegen, zu sehen und zu rollen. Ich fühle die verzweifelte Hektik, mit der er versucht vor mir, dem erbarmungslos stapfenden Riesen, zu flüchten, wie er versucht mit aller Macht seiner kleinen Gedanken die Schwerkraft dazu zu bringen ihn schneller rollen zu lassen.
Mit verschluckter, zerreisender Angst rollt und kugelt er vor mir her. Versucht meinem erbarmungslosen Tritt auszuweichen, vielleicht ein Eckchen zu finden, wo er vor mir sicher ist. Aber nirgendswo ein sicheres Stück Erde. Es bleibt ihm nichts, als sinn- und schon fast hoffnungslos weiter zu rollen. Weiter von mir weg. Nicht ahnend, dass er für mich nicht existiert. Oder nur als kleine unbedeutende Ablenkung von meinem Pfad, in genau dem Moment, in dem ich das panische Geräusch höre, mit dem er vor mir flüchtet. Aber das ist der Grund, warum er vor mir flüchten muss. Seine Unbedeutsamkeit. Würde er etwas bedeuten, irgendjemand außer ihm selbst, würde er mir etwas bedeuten, würde ich ihn wahrnehmen und auf ihn achten. Meine Füße sorgsam so setzen, dass ich seinen traumlosen, bewegungslosen Schlummer nicht störe.
Dann ist plötzlich Stille. Der Stein hat aufgehört zu rollen. Ich war so versunken in ihn, in seine Welt, dass ich jetzt hochschrecke und inne halte. Sein Geräusch, das vor 1 Minute noch nicht existiert hat, war schon ein Teil von mir geworden, ein Teil meines Weges, ein Teil der Geschichte. Einen Fuß halb in der Luft, eine Hand an der Wand erstarre ich. Mit spitzen Ohren versuche ich das Nichts beiseite zu schieben. Versuche die drückende, atemlose Stille einzuordnen, male mir mögliche Szenarien aus. Je weiter ich in die Stille hineinhöre, desto mehr entzieht sie sich mir. Das dunkle Schwarz, das gerade noch eine massive, feste und dadurch sichere Wand war, wird mit jedem Augen Blick unwirklicher. Flecken, Konturen und Umrisse bilden sich aus, nur um in dem Moment, in dem ich versuche sie zu deuten, auseinanderzustieben, wie ein Schwarm Sardinen, um sich an anderer Stelle in einer anderen Formation neu zu bilden.
Plötzlich überkommt mich der Gedanke, dass das Dunkel vielleicht wirklich lebendig ist. Dass die Atome, wenn niemand hinschaut, ein eigenes, geheimnisvolles Leben führen. Nur im schwarzen Nichts, in dem Moment zwischen Sehen und Zwinkern, in dem wir sehen, jedoch nicht erkennen können, trauen sie sich so nah an uns heran, dass wir sie tatsächlich wahrnehmen. Die so vertraute Welt, die Ordnung der Welt, die ich meinte zu kennen und in die ich mich einfüge, der sichere Boden unter meinen Füßen, ist plötzlich bevölkert von unbekannten, unabwägbaren Wesen. Die Spannung des Unbekannten, die Idee des Möglichen ist zu viel. Der Bogen droht zu reissen und mit ihm der Ariadnefaden, der mich mit der hellen Sonne verbindet, die all diese unbekannten Wesen, die ihre Gesichter nicht zeigen wollen, im Zaum hält.
Erschöpft lass ich mich zu Boden fallen. Lehne mich an der kalten, glatten Wand an und versuche in mich selbst hineinzuschauen anstatt in die Dunkelheit hinaus. Versuche vertraute Wege, Felder und Räume zu finden, die durch ihr bekannt sein, jegliche Angst verloren haben. Das Vertraute ist mir manchmal eine lästige Bürde, etwas, das mich zurückhält vom frei Sein. Aber nun weiss ich das Vertraute zu schätzen, mit einem ziehenden, zerrenden Gefühl in meiner Brust, da wo das Herz sitzt. Ein mir nur zu vertrautes Gefühl: Sehnsucht.
Sehnsucht und ich sind schon lang zusammen. Dabei ist das eher so eine einseitige Beziehung: Sehnsucht kommt immer wieder, während ich echt keinen Bock hab sie schon wieder zu sehen und mich schon wieder mit ihr auseinander zu setzen. Sehnsucht schleppt immer alles mögliche an – andere Menschen, eine andere Gesellschaft, ein anderes Leben, ein anderes ich. Immer wieder kommt sie mit dem „anderen“. Zum Kotzen. Sehnsucht ist eine dieser dauerunzufriedenen Kreaturen, die immer genau das haben wollen, was sie eben nicht haben.
Auch diesmal hat sie mich mit ihrem „anderen“ wieder gefunden, ich frage mich, wie sie es immer wieder schafft, mich ausfindig zu machen? Ob die mir vielleicht einen GPS-Peilsender verpasst hat? Das wäre ja krass! Aber diesmal ist trotzdem etwas anders. Sonst bin ich immer genervt, wenn Sehnsucht anruft oder unangemeldet vor der Tür steht – aber heute ist sie mir willkommen. Ich fühle fast etwas wie schlechtes Gewissen, dass ich sonst so oft auf sie schimpfe, so genervt bin von ihr und klammheimlich Wege und Ausreden überlege, im sie los zu werden. Jetzt ist sie mir ein willkommener Begleiter. Gemeinsam denken Sehnsucht und ich an mein helles zuhause, weit weg von diesem düsterem, dunklen Ort. Wie es so ist mit solchen Augenblicken, werden wir beide dann etwas sentimental und wehmütig.
Komisch, ich war schon so oft im Brunnenschacht und auch so oft an seinem Grunde Manchmal ist der Weg dorthin total unaufmüpfig. Sicher, gesittet und wohlbehütet, im Gänsemarsch. Manchmal ist der Weg dorthin so unspektakulär als wäre er gar nicht vorhanden. Manchmal ist das bestaunenswerte Feuerwerk erst am Grund des Brunnens –
Aber manchmal schaff ich es gar nicht bis dahin, weil schon im Brunnenschacht irgendwas passiert. Das ist wohl das, was man meint mit
Der Weg ist das Ziel
Leute, ich mach mich langsam wieder an den Aufstieg und wünsche Euch einen ganz schönen Sonntag!